"Wir kommen hier nie mehr weg"


Ralf Sotscheck - Wir kommen hier nie mehr weg

Aus Dublin RALF SOTSCHECK

 

Das Skelett, das an die Haustür genagelt ist, klappert leise im Wind. Daneben, auf dem Boden, steht ein ausgehöhlter Kürbis, der von innen mit einer Kerze beleuchtet wird. Es ist Hallowe´en. Doch auch ohne die makabre Dekoration wäre die Szene gespenstisch genug. Nirgendwo sind Menschen zu sehen, in den Einfahrten parken keine Autos, es ist still. Das Haus mit dem Skelett ist das einzig bewohnte weit und breit. Es steht in Castlemoyne, einer Geistersiedlung im Norden Dublins.

 

„Wir waren eine der ersten Familien, die 2006 hier eingezogen sind“, sagt Clodagh Moloney. „Um uns herum wurde überall noch gebaut, aber das störte uns nicht, denn es würde ja bald aufhören.“ Es hörte schneller auf, als sie dachte. „Eines Tages waren die Bauarbeiter verschwunden“, sagt die 38-jährige Blondine, die ein für diese Jahreszeit recht sommerliches Kleid trägt. „Die Immobilienblase war geplatzt, die Baufirma ging pleite, sie hinterließ halbfertige Häuser, Fundamente, Bauschutt und offene Kanalisationsrohre. Es war gemeingefährlich.“


Es war 2008, als Castlemoyne zur Geistersiedlung wurde - eine von 2.881 in Irland, insgesamt stehen rund 300.000 Häuser und Wohnungen leer. Ein Neubaukomplex gilt als Geistersiedlung, wenn mehr als die Hälfte der Häuser unbewohnt ist. Schuld daran ist eine Allianz aus Politikern, Bankiers und Bauunternehmen, die während des Booms glaubte, man könne durch die Immobilienspirale immer reicher werden. Die Lokalpolitiker widmeten Agrarland in Bauland um und kassierten dafür unter der Hand, die Banken rückten bereitwillig Kredite heraus, die oft den Wert der Immobilie überstiegen, und die Unternehmen bauten steuervergünstigt mit Hilfe osteuropäischer Arbeitskräfte auf Teufel komm raus, ohne sich um die Nachfrage zu kümmern. 14 Prozent der Wirtschaftsleistung machte das Bau- und Immobiliengewerbe aus, allein im Jahr 2006 wurden mehr als 90.000 neue Häuser gebaut.


Jeder, der schon einmal einen Hammer in der Hand hatte, wurde zum Bauunternehmer, weil er das schnelle Geld witterte. Jetzt sind die meisten bankrott, manche sind untergetaucht, obwohl ihnen die Häuser eigentlich noch gehören. Die zwölf größten Bauunternehmen hinterließen Schulden von mehr als 22 Milliarden Euro. Die meisten Immobilien hat Nama, die irische „Bad Bank“, aus der Konkursmasse übernommen.


„Wir waren damals so froh, endlich den Sprung auf die Immobilienleiter geschafft zu haben“, sagt Moloney. Ihr Mann Kevin arbeitet im öffentlichen Dienst, ihre Kinder sind sieben, neun und zwölf Jahre alt. „Vorher hatten wir zur Miete gewohnt. Später, wenn die Kinder groß sind, wollten wir in ein kleineres Haus ziehen, die Hypothek tilgen und viel reisen. Aber wir kommen hier nie mehr weg. Wir haben fast 400.000 Euro für das Haus bezahlt. Heute bekämen wir nicht mal ein Drittel dafür, wenn sich überhaupt jemand dafür interessierte.“ Wenn man in manchen Geistersiedlungen ein Haus kauft, bekommt man das Nachbarhaus gratis dazu.

 

Der Staat hat fünf Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um die größten Sicherheitsrisiken in den Geistersiedlungen zu beseitigen. Moloney zeigt ans Ende der Straße, die mit einer grünen Plane abgesperrt ist. Dahinter stehen Bauruinen zwischen Brachflächen und Betonfundamenten. „Schön ist das nicht“, findet Maloney, „aber wenigstens können die Kinder jetzt draußen Rad fahren.“ Dafür lauern andere Gefahren. „Die private Sicherheitsfirma, die anfangs noch nach dem rechten sah, ist längst abgezogen, weil sie vom Bauunternehmen nicht mehr bezahlt wurde“, sagt Moloney. „Nun kommen nachts dunkle Gestalten, die aus den leerstehenden Häusern alles abmontieren, das sich verkaufen lässt: Kupferrohre, Türen, Teppiche, Waschbecken, Badewannen, selbst Öltanks und Heizungsanlagen. Was soll man dagegen machen? Ich schwanke zwischen Wut und Verzweiflung.“


Natürlich seien die Leute wütend, sagt John Meehan, ein rundlicher 57-jähriger mit dichten, grauen Haaren. „Die Regierung hat mit ihrer katastrophalen Generalgarantie die Banken gerettet. Um das Geld dafür aufzubringen, wurden den unteren Einkommenschichten die Steuern erhöht und den öffentlich Angestellten die Gehälter um bis zu 20 Prozent gekürzt. Viele müssen nun erleben, dass ihnen die Banken, die sie eben noch mit ihren Steuern gerettet haben, die Häuser wegnehmen, weil sie die Hypotheken nicht zahlen können.“ 90.000 Haushalte sind mit ihren Zahlungen im Rückstand, das ist mehr als ein Zehntel aller Hypotheken.


Massenporteste wie in Griechenland sind jedoch bisher ausgeblieben. „Die Gewerkschaften haben sich mit ihrem sozialen Partnerschaftsvertrag, der den Auschwung befördern sollte, selbst entmachtet“, sagt Meehan, der bei Impact arbeitet, der Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst. „Aber es gibt lokale Proteste. Tausende gingen gegen die Krankenhausschließung in der Grenzgrafschaft Roscommon auf die Straße, und die Occupy-Bewegung hält seit Wochen den Platz vor der Zentralbank besetzt.“


Die Proteste werden sich im Dezember ausweiten, wenn der neue Haushaltsplan mit weiteren drastischen Sparmaßnahmen veröffentlicht wird, glaubt Paul Young. „Die Arbeitslosigkeit ist auf 15 Prozent gestiegen“, sagt er, „in der Dubliner Innenstadt haben Suppenküchen aufgemacht. Wenn jetzt weiter gekürzt wird, müssen die Leute doch auf die Straße gehen.“


Young, ein schlanker 30-jähriger im modischen dunklen Anzug mit bunter Krawatte, wohnt in Belmayne, einer der größten Geistersiedlungen des Landes, nur einen Steinwurf von Castlemoyne entfernt. 1,2 Milliarden Euro hat das Projekt gekostet, es liegt an der vornehmen Malahide Road, aber auch nur wenige Minuten vom Problemviertel Darndale entfernt. Das tauchte in der Werbung freilich nicht auf. Die Baufirma hatte langbeinige Modelle lasziv auf Sofas drapiert, darunter stand auf den Plakaten: „Wunderschönes Wohnen kommt nach Dublin.“ Aus England wurden der Ex-Profifußballer Jamie Redknapp und seine Frau, die Popsängerin Louise, eingeflogen, um die Häuser zu vermarkten.


„460.000 Euro hat damals ein Haus mit drei Schlafzimmern gekostet“, sagt Young. „Heute wird es für die Hälfte angeboten, aber kaufen will dennoch niemand.“ Die Baufirma LM Developments ist vor einem Jahr pleite gegangen. Young ist Geschäftsführer eines Supermarktes in der Innenstadt. „Von meinem Laden aus kann ich die Zentrale der Anglo-Isish Bank in den Docklands sehen, der größten Pleitebank des Landes, mit deren Rettung die Misere begonnen hat“, sagt Young. „Das Gebäude ist ein passendes Symbol für die irische Krise: Es ist eine Bauruine.“


In Balmayne stoppten die Bauarbeiten 2008. Zwei Jahre zuvor waren die ersten Häuser bezugsfertig, Young zog mit seiner Frau und seinem damals dreijährigen Sohn 2007 ein. „Wenn wir nicht im Lotto gewinnen, werden wir bis ans Lebensende hier wohnen müssen“, sagt er. „Der Immobilienmarkt ist für Jahrzehnte ruiniert. Tausend Iren wandern jede Woche aus, die Immigranten aus Osteuropa kehren scharenweise in ihre Heimat zurück. Wer soll die ganzen Häuser kaufen? Es wäre billiger, sie abzureißen, als sie für die nächsten 20 Jahre instand zu halten.“
Von den 2.650 Häusern in Belmayne sind nicht mal zwei Fünftel bewohnt. An einer Ecke steht ein Straßenschild, das auf die Main Street hinweist. Die vierspurige Straße ist durch einen Mittelstreifen getrennt. Eine Hälfte der Straße hört nach 100 Metern an einem Bauzaun auf, dahinter liegt Brachland. An dem Haus gegenüber, wo eigentlich ein Laden einziehen sollte, sind die Fenster mit riesigen Bildern beklebt: eine Plaza mit Grünflächen und Bäumen, Straßencafés und jede Menge Menschen, die im Sonnenschein über den Platz flanieren. So sollte es hier eigentlich aussehen. Bis auf den Sonnenschein ist nichts davon eingetreten.


Neben dem Torbogen, der schicken Einfahrt nach Balmayne, steht ein Flachbau, das „Belmayne Information Centre“. Der Vorgarten ist überwuchert, das Gebäude längst verlassen, weil sich niemand für Informationen über Belmayne interessiert. „Ich habe ja wenigstens einen Job, so dass wir die Hypothek bedienen können“, sagt Young. „Andere können das nicht.“


In den ländlichen Gegenden sind die Probleme noch schlimmer. In Leitrim zum Beispiel, einer kleinen Grafschaft im Nordwesten mit knapp 32.000 Einwohnern, gibt es genau so viele Geistersiedlungen wie in der Millionenstadt Dublin. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass in den ländlichen Gegenden neben den modernen Bauruinen auch Geisterdörfer aus dem 19. Jahrhundert stehen: Ansammlungen kleiner Cottages, deren Bewohner vor der Hungersnot nach England, Australien oder Amerika geflohen sind.

 

Die Regierung hat angekündigt, dass die Bewohner der neuen Geistersiedlungen die geplante Immobiliensteuer nicht zahlen müssen. „Das ist ein Hohn“, schimpft Young. „Als ob die zwei Euro pro Woche, die wir dadurch sparen, unsere Situation auf irgendeine Weise verbessern würden.“

 

 

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